Frei von Schmerz
Leonora, wie begann dein Weg zu Gott?
Leonora Maloku: Meine Reise mit Gott begann 1999 mit dem Kosovokrieg. Ich war damals elf Jahre alt. Es war
eine schreckliche Zeit: Wir verloren unser ganzes Hab und Gut, mussten uns wochenlang frierend und hungernd im Wald verstecken und waren den Feindseligkeiten der serbischen Kräfte ausgeliefert. Aber das Schlimmste war, dass mein Vater im Krieg getötet wurde.
Wie bist du mit dem Tod deines Vaters zurechtgekommen?
Gar nicht. Nach dem Krieg verfiel ich in eine schwere Depression. Während die anderen Kinder die wiedergewonnene Freiheit genossen, hatte ich das dumpfe Gefühl, dass ich nie mehr glücklich sein würde. Ich war enttäuscht und sagte zu Gott: »Du hättest meinen Vater nach Hause bringen können, aber du hast es nicht getan.« In der Hoffnung auf Antworten begann ich, den Koran zu lesen und intensiv den Islam zu praktizieren. Meine Familie war sehr stolz auf mich. Aber ich fühlte mich nur leer und rang mit einem stummen Gott, der niemals antwortete. Dann kam der absolute Tiefpunkt: Eines Tages schloss ich mich in meinem Zimmer ein und weinte bitterlich. Ich hatte die Hoffnung komplett aufgegeben, jemals meine seelischen Qualen loszuwerden. Zum ersten Mal sagte ich kein auswendig gelerntes Gebet auf, sondern sprach mit Gott in eigenen Worten. Ich bat ihn, mein Leben zu beenden. Innerlich war ich schon gestorben.
Wie fandest du als strenggläubige Muslimin zu Christus?
2006 nahm ich mein Studium an der Universität Pristina auf. Dort lernte ich zwei Jahre später einige Frauen von Campus für Christus kennen. Sie hatten so etwas Besonderes an sich – ich liebte es sehr, mich mit ihnen zu unterhalten. Sie merkten sehr bald, wie groß mein geistlicher Hunger war. Sie erzählten mir von Jesus und schenkten mir eine Bibel. Wie empfohlen startete ich mit dem Johannes-Evangelium. Schon die ersten Verse – »das Wort wurde Mensch und lebte unter uns« – trafen mich mitten ins Herz. Gott ist nicht fern, stumm und unsichtbar. Jesus kam auf die Erde, um uns nahe zu sein! Ich fing an zu weinen und konnte einfach nicht aufhören. Es war, als hätte Gott dieses Buch speziell für mich geschrieben, um mir zu sagen: »Leonora, das ist die Zukunft, die ich für dich habe. Nicht Verzweiflung und Depression, sondern Hoffnung und Freude!« Überglücklich nahm ich Gottes Angebot an und bat Jesus, in mein Herz zu kommen.
Wie reagierte deine Familie?
Meine Mutter respektiert meine Entscheidung, sagt aber auch, dass mein Glaube für sie nicht in Frage komme. Aber sie lebt noch, und ich kann für sie beten, sie segnen und lieben. Ich vertraue Gott, dass er sich um alles andere kümmert. Viel schwerer zu beißen hatte ich am Gedanken, dass mein Vater aus dem Leben gerissen wurde, ohne das Evangelium gehört zu haben. Diese Vorstellung nagte sehr an mir. Doch ausgerechnet ein Traum meiner muslimischen Mutter kramte ein längst vergessenes Kindheitserlebnis aus meinem Gedächtnis hervor: Plötzlich erinnerte ich mich, wie mir mein Vater Geschichten aus einer großen Bibel mit vielen Bildern vorlas – er kannte also das Evangelium! Dies befreite mich von meinem Schmerz und half mir, meinen Vater ganz Jesus anzuvertrauen.
Wie lebst du deinen Glauben in einem muslimischen Land?
2010 beschloss ich, mich vollzeitlich für meine Kirche zu engagieren (siehe Box unten, Anm. d. Red.). Der Kosovo wird zu 96 % von Muslimen bewohnt, der Islam ist weiter auf dem Vormarsch. Die Nähe zur Kirche gibt mir Sicherheit und ermöglicht es mir, im Glauben zu wachsen. Ein christliches Leben zu führen ist ein Abenteuer. Nichts, was uns passiert, ist Zufall. Heute erkenne ich, wie Gott jedes einzelne Detail nutzte, um mich in seine Gegenwart zu bringen.
Konntest du die Wunden des Krieges überwinden?
Vor wenigen Jahren nahm ich an einer christlichen Konferenz in Ungarn teil. Ein serbischer Pastor kam zu mir, kniete nieder und sagte mit Tränen in den Augen: »Meine Tochter, ich möchte Gott und dich um Vergebung bitten für mein Land und für denjenigen, der deinen Vater getötet hat.« Ich bin Gott sehr dankbar, dass er mir half, dem serbischen Volk zu vergeben. Durch die Kraft des Heiligen Geistes konnte ich einen Prozess der Heilung durchlaufen.
*Leonora Maloku ist die rechte Hand des kosovarischen AVC-Partners Artur Krasniqi, der 1985 die protestantisch-
evangelische Kirche in Pristina gründete.
Leonora leitet die sechs Secondhand-Läden zur Realisierung verschiedener Sozialprojekte, trägt Mitverantwortung
für die Kinder- und Jugendarbeit, hilft mit bei der Organisation zweier Nähschulen für Frauen und ist Mitglied des Leitungsteams der Bibelschule und des christlichen Bücherladens unseres Partners.
Die 35-Jährige mit einem Masterabschluss in Psychologie ist außerdem Mitglied der Geschäftsleitung der Evangelischen Allianz Kosovos.